Pressestimmen


Die Presse - 26.09.2010
Das Ich könnte ein anderer sein
Der argentinische Regisseur Mariano Pensotti lässt internationale Dichter für den >steirischen herbstEnzyklopädie

Was bedeutet Jorge Luis Borges für die jüngeren Schriftstellergenerationen in Argentinien? Ist er der liebe Gott, ein Reaktionär, der bekämpft gehört, oder gar schon vergessen? "In diesem Falle mache ich es mir einfach - er ist noch immer Gott", sagt Mariano Pensotti, Jahrgang 1973. "Wir haben nie gegen sein Erbe angekämpft, das war die Angelegenheit der Generation meiner Eltern." Die waren in den Siebzigerjahren linke Freiheitskämpfer gegen die argentinische Junta. "Für uns ist Borges ein Ausnahmefall, ein Solitär, zeitlich schon in Distanz, in seinen Einfällen jedoch nah."

   Pensotti, renommierter Autor und Regisseur aus Buenos Aires, wird für den "steirischen herbst" im Grazer Schauspielhaus ein ehrgeiziges Dramenprojekt verwirklichen. 19 Autoren, darunter Friederike Mayröcker, Elfriede Jelinek, Dietmar Dath, Kathrin Röggla, Händl Klaus, Alan Pauls und Rabih Mroue haben kurze Texte geschrieben, die er zu einem Drama fügt. Die "Enzyklopädie" soll zwei Dutzend ungelebte Situationen beschreiben, das erinnert doch sehr stark an die unendlichen Bibliotheken und Labyrinthe von Zauberer Borges. "Er hat mich tatsächlich stark beeinflusst", gesteht Pensotti, "vor allem bei der ersten Konzeption dieser ungelebten Momente. Bei ihm wimmelt es von Doppelgängern und gefälschten Enzyklopädien".

   Auf der Flucht. Ein Beitrag Pensottis handelt von fantastischen Rachegedanken eines jungen Regisseurs gegen einen Folterknecht der Diktatur. Das klingt sehr politisch, doch den Autor interessiert in diesem Fall vor allem die Schnittstelle von Fiktion und Realität, nicht eine vordergründige Botschaft. "Die lateinamerikanischen Diktaturen haben nicht nur die Schriftsteller, sondern das Leben aller Bürger stark beeinflusst. Während meiner ersten Lebensjahre waren meine Eltern vor allem auf der Flucht. Das ist eine Situation wie aus Erzählungen von Borges, doch dieses Thema ist schon so oft abgehandelt worden, dass wir Jüngeren es uns leisten können, es auf einer Metaebene zu sehen. Rache und Emotion sind nicht so präsent wie ästhetische Überlegungen. Als politisches Thema hat uns der Finanzkollaps des Landes 2001 seither mehr interessiert."

   Wie nabelt man sich in solch einer Situation von den heldenhaften Eltern ab? "Das ist eine ironische Situation. Vor Kurzem bin ich mit meinem Vater viel gereist. Er hat mir über seine Zeit als militanter Linker erzählt. Ich bemerkte, dass sich die Geschichten mit den Jahren verändert haben. Diese Veränderung, das Trügerische des Gedächtnisses interessiert mich. Auch das habe ich in einen Text für die Enzyklopädie einfließen lassen. Das Erzählen verändert die Realität."

   Kino war zu teuer. Die Theaterszene in Buenos Aires beschreibt Pensotti als lebhaft und vor allem als unabhängig. "Wir lieben das Crossover der Disziplinen. Bühne und Autorenschaft sind eins, auch die bildenden Künste und die Musik sind eingebunden." Er persönlich habe mit Kino begonnen. "Doch das war viel zu teuer, da wartet man fünf Jahre auf ein Ergebnis. Ich ging zum Schreiben und Inszenieren über." Immer wieder kehre in seinem Theater ein Thema wieder: "Es handelt von Personen, die jemand anderer sein wollen. Das habe ich zuletzt in meinem Stück ,El pasado es un animal grotesco' versucht." Vier Charaktere wollen innerhalb von zehn Jahren ihr Leben ändern. "Es beschreibt das Lebensgefühl meiner Generation in Argentinien."

   Das Grazer Projekt scheint noch komplizierter zu sein. Pensotti: "Wir entscheiden uns beständig für den einen oder anderen Weg. Aus ungelebten Momenten werden alternative Leben. Als wir, das Schauspielhaus und ich, die Autoren zu den Texten einluden, war nicht klar, wie autobiografisch sie sein würden. Wir haben ihnen alle Freiheiten gelassen. Wenn es Missverständnisse gab, haben wir das besprochen" Einige Autoren haben ihn besonders positiv überrascht: "Jelinek hat einen brillanten Text geschrieben. Er umfasst auf kleinem Raum so viele Ideen und Bilder, komplex, aber gut gebaut. Sie ist sehr theoretisch, verliert jedoch nie das Gefühl für die Fiktion."

   Wie fügen sich die Einzelteile nun zu einem Ganzen? "Es gibt genug Kontrast und dramatische Differenz für eine gute Aufführung. Wir zeigen Fragmente von etwas Größerem, von einer Enzyklopädie, die unendlich ist und vielleicht sogar für verschiedene Aufführungen erweitert werden kann. Fünf Schauspieler werden im Prinzip dieses Wissen bei der Aufführung schaffen, das ist ein ständiger Prozess. Es gibt aber nicht nur den Text, sondern auch Livebilder und Songs. Die werden traditionell mit Erinnerung verbunden." Auch die Zuseher können Einsicht in die Enzyklopädie nehmen, verrät Pensotti.

   Mit seinem Team ist er seit einiger Zeit auf Tour, von Festival zu Festival. Worin unterscheiden sich die Spielweisen in verschiedenen Ländern? "Bei einem Stück, ,La Marea', das wir seit 2005 bringen, hatte ich die Gelegenheit, in einem Dutzend Städten in diversen Fassungen mit lokalen Schauspielern zusammenzuarbeiten. Da gibt es große Unterschiede zwischen Argentinien, Kanada, Japan, Deutschland. Die Ausbildung der Lateinamerikaner ist viel weniger formal. Man beginnt einfach mit der Arbeit." In Buenos Aires sei man sehr offen für neue Formen des Schauspiels.

   Leben als Gebrauchsanweisung. "Ich fühle mich stark beeinflusst vom Kino, von bildenden Künstlern", sagt Pensotti. Werner Herzog habe ihn geprägt, aber auch der französische Autor Georges Perec. "In einem seiner Romane, ,La Vie mode d'emploi' (1978), beschreibt er ausführlich das Leben, die Geschichten in einem Pariser Mietshaus. Von den Lateinamerikanern verehre ich den chilenischen Schriftsteller Roberto Bolano, vor allem ,Die wilden Detektive'. Diese Leute haben mich stark geprägt, so wie der kanadische Künstler Stan Douglas."

   Seine Zukunft sieht Pensotti vor allem auch als Schriftsteller. "Wenn ich fürs Theater schreibe, denke ich nicht in Dialogen, sondern ich stelle mir vor, dass ich einen Roman schreibe oder Short Storys. Es werden aber meist Aufführungen daraus."

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   1973 Geboren in Buenos Aires. Mariano Pensotti studierte bei Daniel Veronese und Alejandro Tantanian szenisches Schreiben sowie bei Ruben Szuchmacher Inszenierung. Pensotti ist Autor und Regisseur, hat auch Filme gemacht. Viele seiner Arbeiten fokussieren auf die Grenzen des Theaters, dokumentarische Elemente werden mit fiktionalen Konstruktionen verknüpft.

   2005 "La Marea".

   2007 "Interiores", "Sucio".

   2010 Uraufführung beim "steirischen herbst": "Enzyklopädie des ungelebten Lebens", mit Beiträgen von Mayröcker, Jelinek, Röggla, Dath, Pauls und anderen.

   Termine Schauspielhaus Graz, Probebühne: 7., 9. und 12. Oktober, 20 Uhr. @LU Peter Manninger




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