Pressestimmen


Kleine Zeitung - 09.10.2010
Verpasste Chancen auf Polaroid
Kurzepisoden von [A]ctor bis [Z]ukunft: Mariano Pensottis "Enzyklopädie des ungelebten Lebens" im Schauspielhaus Graz ist eine so nachdenkliche wie bizarre Revue der Versäumnisse.

Mit seinen "Mikrodramen" hob Wolfgang Bauer selig bereits anno 1964 als erst 23-Jähriger sämtliche Theaterkonventionen lustvoll aus den Angeln. Man ist neugierig, wie das Grazer Schauspielhaus Ende November Bauers Walfischregen, grüne Kamele oder 150.000 Statisten auf die ebene 3 bringt.

   "Mikro" sind auch die Dramen, die Mariano Pensotti als Auftragswerk des Schauspielhauses und des steirischen herbstes aus Kurztexten destilliert, die ihm Autoren von Händl Klaus über Friederike Mayröcker bis Landsfrau Lola Arias überließen. Der 37-jährige Regisseur aus Buenos Aires, der 2008 schon Johannes Schrettles "kollege von niemand" als Pseudorevolutionsstück für den herbst inszenierte, blättert diesmal auf der Probebühne eine "Enzyklopädie des ungelebten Lebens" auf. Von [A] wie Actor über [F] wie Flucht bis [Z] wie Zukunft reichen die Episoden, die jeweils nach dem Was man ist/Was man sein will fragen, nach Versäumnissen aus der Vergangenheit, nach strengen Weggabelungen im Jetzt.

   Die Bühne, ein Flohmarkt (Mariana Tirantte): TV-Gerät und Einkaufswagerl, Rucksack und Kitschbild mutieren flugs zum Ausstattungsfundus. Drei Kojen bilden die Spielflächen für Einzelszenen, die wie Puzzles wirken und doch, samt wurlitzernden Musikeinwürfen (Diego Vainer) zwischen Bach, Phil Collins und Velvet Underground klug komponiert, ein Ganzes ergeben.

   Ob verpasste Urlaubsliebe, Begegnungen mit Elternmördern oder Tod durch Kirschkerne als Running Gag (Clemens J. Setz): Die Texte werden, jeweils mit moderierendem Erzähler, nicht nur illustriert, sondern gebrochen, kontrapunktiert, ironisiert, die Szenen auf das Kommando "Jetzt!" mit Polaroid festgehalten. Momentaufnahmen des Lebens.

   Verena Lercher, Sophie Hottinger, Leon Ulrich, Rahul Chakraborty und Claire Sobottke, die einen grotesken Kuschel-Stunt mit einem Teddybären hinlegt, finden immer Scharfeinstellungen für die Lebensproben unter dem Mikroskop. Und zwischen einigen Banalitäten beweist Elfriede Jelineks praktisch uninszenierter Text "Zündholz": Nichts ist im Theater stärker als die Sprache.

Michael Tschida



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