Pressestimmen


Wiener Zeitung - 09.10.2010
Polaroids vom ungenutzten Leben
Wenn - ja wenn die Sache bloß ein wenig anders gekommen wäre! Wenn zum Beispiel die spontane Liebschaft zu einer weiteren Begegnung geführt hätte. Wie viele Buchstaben müsste eine "Enzyklopädie des ungelebten Lebens" haben, wie viele braucht man, um einen

In Graz wurde es probiert, in einer Koproduktion des "steirischen herbst" und des Schauspielhauses. Autoren wurden eingeladen, sich Gedanken über ungenutzte Lebensperspektiven zu machen. Lyrik und Prosa, Aperçus und Feuilletons: 18 Autorinnen und Autoren haben geliefert, zwei Texte hat der argentinische Autor und Regisseur Mariano Pensotti selbst beigetragen.

   Auf der Probebühne des Grazer Theaters finden wir uns auf einem Flohmarkt wieder: Es liegt herum, was übrig geblieben ist vom Leben anderer Leute, vielleicht sogar von deren ungelebtem Leben. Hinter dem wohlfeil ausgebreiteten Tand sind drei winzige Guckkasten-Bühnen - viel Platz brauchen die Lebensoptionen nicht.

   Drei Schauspielerinnen und zwei Schauspieler leben Szene um Szene, reichen einander Requisiten. Im Flohmarkt-Gut findet sich immer wieder Passendes, und im günstigen Fall schafft das vermeintliche Improvisieren mit den Dingen ironische Brechung (so wie die Pop-Musik zu jeder Szene immer Kommentar ist). Ein Bild von einer Palme muss für den Urlaubstraum stehen. Ein Kaffeehaustisch ist allemal gut für Dialoge, die meist so herrlich ins Nichts, jedenfalls am Gegenüber vorbei führen. Dauernd werden auf der Bühne Polaroids geschossen, auch das oft mit ironischem Touch.

   Die Autoren: Einige Ame rikaner und Argentinier sind darunter, der Libanese Rabih Mroué, die Kroatin Ivana Sajko, der Pole Andrzej Stasiuk, einige Autoren aus Deutschland. Österreich ist mit Friederike Mayröcker, Kathrin Röggla, Händl Klaus, Gerhild Steinbuch und sogar Elfriede Jelinek prominent vertreten.

   Nur nichts ergreifen

   Z wie Zündholz: Jelineks Text steht am Ende, und das ist gut so, nicht nur, weil so der einzigen Nobelpreisträgerin in der Runde Ehre widerfährt. "Man beugt sich ja nicht übers Leben, um in einem Sinn herumzurühren, den etwas bekommen könnte", sinniert sie. "Der Sinn ist schon angerührt, wenn man in die Speichen des Lebens hineingreift, aber nichts kann die Welt aufhalten, in der jeden Moment Gefahr heraufzieht." Und sich glücklicherweise auch wieder verzieht, ohne dass der Schutzmantel der Unnahbarkeit, mit dem Jelinek sich seit jeher umgibt, zerstört wird. Auch wenn ihr Gegenüber zündelt, fängt sie nicht Feuer: "Ich ergreife die Gelegenheit nicht, weil ich überhaupt keine Gelegenheit ergreife."

   Theater

   Enzyklopädie des

   ungelebten Lebens

   Von Andrzej Stasiuk,

   Elfriede Jelinek u. v. a.

   Schauspielhaus Graz

   Wh.: 9. und 12. Oktober

Reinhard Kriechbaum



created with wukonig.com