Pressestimmen


Der Standard - 25.09.2010
Sturm aus der Hölle
Marianne Fritz hat sich in ihrem Schreiben auf die ganze Ungeheuerlichkeit der Tatsache eingelassen, dass mitten in Europa Millionen von Menschen getötet und Leben in einem Großraum ausgelöscht wurde.

Eine der unfassbarsten antisemitischen Hetzschriften ist das Kinderbuch Der Giftpilz (1938), geschrieben von Ernst Hiemer, dem sogenannten "Hauptschriftleiter" des Stürmer . Der Umschlag des Buches zeigt den Volksfeind Nummer eins, dargestellt als einen Schirmling mit hässlicher Fratze. Auf dem Boden neben ihm wächst zahlreiche Nachkommenschaft heran, und auf der Brust trägt der Giftpilz den Judenstern, damit jeder weiß, was gemeint ist.

   Auf den letzten Seiten eines 700-seitigen Teilabschnittes von Naturgemäß III , den Marianne Fritz als ihr literarisches Testament hinterlassen hat, wächst jener Giftpilz förmlich aus dem Textboden. Die Autorin, die am 1. Oktober 2007 im Alter von 58 Jahren in Wien verstorben ist, hat die abstoßende Karikatur an mehreren Stellen in den Text gesetzt. Die Tiefendimension, die ihr Schreiben seit jeher hatte, wird damit erstmals an eine weithin sichtbare Oberfläche gebracht.

   Die unmittelbare Zeit des Nationalsozialismus, das Thema Holocaust und der darin zu ungeheuerlicher Größe gewachsene Hass fanden sich als explizite Themen im Gesamtwerk von Marianne Fritz bislang konsequent ausgespart. Ihre frühen Bücher, beginnend mit dem schmalen Band Die Schwerkraft der Verhältnisse (1978) über den Roman Das Kind der Gewalt und die Sterne der Romani (1980) bis hin zu den dann bereits 3400 Seiten von Dessen Sprache du nicht verstehst (1985/86), bewegten sich sukzessive in die österreichische und dann auch in den Großraum einer osteuropäischen Geschichte zurück. Um den Zeitraum des Nationalsozialismus machte die Autorin einen Bogen, der erklärlich war aus einem erzählerischen Zweifel an der Darstellbarkeit der damit verbundenen Schrecken.

   Anhand der beiden Werkabschnitte Naturgemäß I (1996) und Naturgemäß II (1998), die jeweils in fünf Einzelbänden als faksimiliertes Typoskript erschienen, wurde klar, dass Marianne Fritz sich nicht nur von standardisierten literarischen Formen, sondern auch von einem traditionellen Geschichtsbild verabschiedet hat.

   Der Weg zurück in die Geschichte endet in Naturgemäß im Jahr 1914 in der österreichischen Kriegsfestung PrzemySl. Auf den Ort und die dort verbürgten Kampfhandlungen bezieht sich die Autorin auch insofern, als sie Originalquellen und (in Naturgemäß II ) originale Kartenwerke in den Text montiert. Die einzelnen Seiten ihres Buches bezeichnete sie als "Textgelände" und gestaltete sie in höchst aufwändiger Weise. In vielfältigen Formen (durch zeichnerische Einsprengsel, Collagen, verschiedenste Schriften und topografische Anordnungen) wird die Linearität der Schrift gebrochen.

   Terror und Schrecken sind in PrzemySl aber nicht nur außerhalb (wo der russische Feind wartet), sondern vor allem auch innerhalb der Festungsmauern präsent. In den höheren Chargen der Besatzung trifft man eine Gruppe abgrundtief böser Figuren. Insgesamt geht es dem Text aber nicht um die Psychologie von Personen, sondern um die Beschreibung dynamischer Rückzugs- und Aufmarschrouten, auf denen sich einzelne Personen und ganze Personengruppen bewegen. Diese Routen gehen vielfach über die topografischen und zeitlichen Begrenzungen von PrzemySl hinaus und reichen weit in die Geschichte zurück. Der Ort PrzemySl und seine Umgebung stehen mit den Mythen ganzer Landstriche, der Geschichte ganzer Staaten und ganzer Heerscharen in Permanentkontakt.

   Vorsprung des Bösen

   Ihre kausalen und chronologischen Verlaufsformen gibt Geschichte in Naturgemäß auf. Eher ist die Festung als Produkt einer Schichtung zu sehen, in der unterschiedliche Zeiten miteinander ein polyfones Arrangement bilden und unterschiedliche Zeit- und Raumachsen alogische Verflechtungen eingehen. Zeiten- und Ziffernstürze finden statt, einzelne Figuren leben schon einmal Hunderte von Jahren, Gespenster aus der Vergangenheit kriechen in der Gegenwart unter der Erddecke hervor und sind zu immer schlimmeren Bösartigkeiten bereit.

   Wozu der Boden fähig ist, den Naturgemäß erkundet und gleichzeitig nachbildet, zeigt sich jetzt an Naturgemäß III : Auf diesem Boden gedeihen Giftpilze der übelsten, nämlich der Hiemer'schen Sorte. Das Schichtmodell der Vergangenheit, das Marianne Fritz auf Tausenden von Seiten entworfen hat, ist herangereift in eine Zukunft, die alle bislang geschilderten Schrecken als pure Kinderspiele erscheinen lässt. Wie konnte das Böse sich einen derartigen Vorsprung verschaffen? Und: Was ist das bloß für ein Boden, auf dem so etwas wächst? Das sind die Leitfragen, unter die das nachgelassene Typoskript das Schreiben von Marianne Fritz retrospektiv stellt.

   Eine Frage, die eine Frage an die Autorin und gleichermaßen an den Text ist, kommt hinzu: Wie vermöchte jene einzigartige Menschheitskatastrophe des 20. Jahrhunderts, die der Nationalsozialismus war, von einem einzelnen menschlichen Gehirn erfasst werden? Das Gesamtwerk von Marianne Fritz ist die komplexeste und eindringlichste Antwort, die die Literatur angesichts dieser Frage jemals hervorgebracht hat, und dies vor allem auch deshalb, weil die versuchte Antwort sich radikal auch gegen sich selbst richtet.

   Die Herausforderungen des Themas, das Marianne Fritz ernst nahm wie niemand sonst, wurden für sie und ihr Schreiben zu einer Gefahr. Und je weiter die Autorin in ihrem literarischen Gesamtprojekt fortschritt, desto gefährdeter schien ihre Position, nicht allein wegen der Isolierung im Literaturbetrieb (die ja auch eine Faszination auf andere hatte), sondern vor allem aufgrund der vollständigen Zerstörung konventioneller literarischer Formen, die eben dem Thema geschuldet ist.

   Marianne Fritz hat sich in ihrem Schreiben auf die ganze Ungeheuerlichkeit der Tatsache eingelassen, dass mitten in Europa Millionen von Menschen getötet und Leben in einem Großraum ausgelöscht wurde. Im Schreiben versuchte sie, den ganzen Raum und alles, was in ihm ausgelöscht wurde, zu rekonstruieren. Unter den Laborbedingungen einer Wohnung im 7. Wiener Gemeindebezirk, die (übrigens bis heute) gefüllt ist mit Quellen, Büchern und ganzen Ordnerreihen von Manuskripten, wurde an einem einzigartigen Großprojekt gearbeitet. Ein Epizentrum des Schreibens, das spürbar ist, sobald man den realen Raum dieser Wohnung oder den Textraum betritt.

   Marianne Fritz ging es immer um das Ganze. Deshalb mussten es Tausende von Figuren sein, Tausende von Orten und Jahrtausende, die die Darstellung umspannt. Mitten in all diesen Schichten und durch sie hindurch wachsen die Kräfte der Vernichtung. Mit Naturgemäß III (im Untertitel nennt sich der Werkabschnitt: "Noli me tangere / Rührmichnichtan") gelangen sie zu schrecklicher Blüte. In einem Gebiet, das die Autorin "die blaue Nuss" nennt, beispielsweise findet Leib Asche (eine Figur, die man von früher kennt) die Bestimmung, die in seinem Namen steht.

   Auf der allerletzten Seite des nachgelassenen Typoskripts (sie trägt die Nummer 5397) findet sich in das Textgelände ein berühmtes Zitat von Walter Benjamin eingepasst. Es beschreibt den "Engel der Geschichte", der aussieht wie ein Bild von Paul Klee: "Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert.

   Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm." Marianne Fritz gönnt in ihrem Werk dem Engel der Geschichte eine kurze Ruhepause. Der Sturm aus dem Paradies legt sich, und der Geflügelte lässt sich auf dem Trümmerhaufen der Menschheitskatastrophen nieder. Gewaltig indes ist der Orkan, der danach (und ich nehme an: von der Hölle her) losbricht. Er reißt alles mit sich, was wir bislang von Literatur, ihren Möglichkeiten und Formen, wussten.

   Am 28. September wird im Literaturhaus Graz (Elisabethstraße 30) um 19.30 Uhr die Ausstellung "Was normal ist, entscheidet in letzter Instanz ..." eröffnet, in der Marianne Fritz' Romanfragment "Naturgemäß III" zum ersten Mal der Öffentlichkeit präsentiert wird. Eine Kooperation von Fritzpunkt, Steirischer Herbst und dem Literaturhaus Graz.

   Klaus Kastberger ist Kritiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter des Literaturarchivs der Österreichischen National-

   bibliothek.




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