Pressestimmen


Salzburger Nachrichten - 28.09.2010
Staunen über die Stille, Staunen über das Werk
Faszinierender Klaviermarathon im "steirischen herbst": Eine Woche lang widmet sich Marino Formenti gänzlich der Musik

GRAZ (SN). Das Publikum sitzt, hockt, liegt gedankenversunken auf Matratzen, auf Decken, teils mit geschlossenen Augen, bequem ausgestreckt, voll konzentriert auf die sich im Raum ausbreitenden Tonlandschaften. Es ist eine improvisierte Schule des Hörens, zu der Mario Formenti, der in Italien geborene Pianist und Dirigent, in einen Raum des Grazer Stadtmuseums lädt. Acht Tage sitzt Formenti am Klavier, spielt, lebt, atmet, isst und schläft im Stadtmuseum und betreibt damit einen ebenso radikalen wie selbstausbeuterischen Versuch, in der Musik, in der Kunst aufzugehen: "Nowhere".

   "Nowhere ist ein Un-Ort in der Stadt", erklärt Formenti, der mit seinem Spiel die Grenze zwischen Bühne und Leben, Tag und Nacht, Wachheit und Tagtraum, Privatheit und Öffentlichkeit überwinden möchte. Das Publikum ist bei freiem Eintritt eingeladen, über Stunden in der intimen Atmosphäre zu verweilen oder eben nur kurz vorbeizuschauen, quasi in der Mittagspause einen Happen Erik Satie zu konsumieren. "Nowhere" ist täglich zwischen zehn Uhr vormittags und 22 Uhr zugänglich, wobei Formenti, der Besessene, auch darüber hinaus am Klavier sitzt. Zu bestimmten Zeiten gibt es Fixpunkte: die eigens für das Projekt entstandene Kompositionen "now.here 1-7" von Klaus Lang etwa, zudem noch Stücke von Morton Feldman. Auch für die Besucher wird die Zeit im musikalischen Labor zu einer Selbststudie. Wie sehr ist man noch bereit, abzuschalten, hinzuhören und sich den Klängen auszuliefern, über die Stille zu staunen? Die von hoher Konzentration geprägte Stimmung im Raum erweitert die subjektive Wahrnehmungsskala. Plötzlich wird das Geräusch der Kassa im Stadtmuseum zu einem Störfaktor, jede Sitzveränderung von Zuhörern ist hörbar. "Nowhere" schafft so eine Inselsituation mitten in der Grazer Innenstadt. Die Hektik des Alltags entschwindet im Matratzenlager in Windeseile.Täglich mindestens zwölf Stunden am Klavier Der Umraum dringt in die Kunstklausur: vorbeifahrende Straßenbahnen, Passanten, die durch die Fensterfront in den von Formenti bespielten Raum blicken, wo Konzertkonventionen gebrochen werden. Marino Formenti spricht in einem Begleittext von der "manchmal verheerenden Hektik des Konzertlebens". Er möchte wissen, wie ein Sforzato "nicht nach 20 Minuten, sondern nach 20 Stunden Pianissimo" klingt. "Ich möchte wissen, welche Form das Staunen über ein Werk, das Staunen über Musik überhaupt annimmt, wenn man das Werk, die Musik noch und noch und noch einmal spielt, sie zu seinem Leben macht, jenseits des eigenen privaten Vergnügens."

   Wer den Pianisten betrachtet, entdeckt die Leidenschaften in seinem Antlitz: süffisantes Grinsen, Zufriedenheit, eine Ahnung von Glück bis hin zu Zweifel, Skepsis, Angestrengtheit, Konsequenz. Die Komponisten Lang, Feldman und Erik Satie bezeichnet Formenti als "Mitbewohner" seiner "Nowhere"-Wohngemeinschaft, die als "Art heidnischer Kapelle, wo mein Leben wieder Musik werden kann", funktionieren soll. "Wenigstens eine kleine Woche lang noch", so der Nachsatz des Pianisten. "Nowhere", eine Kooperation zwischen der "open music"-Kuratorin Ute Pinter und dem ORF-musikproto-koll, ist auch als Livestream (www.openmusic.at) rund um die Uhr zu verfolgen. Leben, denken, sich fallen lassen in Musik. Der "steirische herbst" hat endlich wieder einen Höhepunkt.


Martin Behr



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