Pressestimmen


Falter - 06.10.2010
Schulden und Sühne im Überfluss
Was ein Festivalbesucher in Graz so alles erleben kann (2)

Mittwoch, 29.9. Liebes Tagebuch! Hätte Marino Formenti nicht heldengleich die Stellung in seiner ≥heidnischen Kapelle„ gehalten, in der er eine stetig wachsende Zuhörerschar mit Klavierstücken von Erik Satie, Morton Feldman und Klaus Lang in ein schöneres ≥Nowhere„ entführte, wer weiß, ob wir diese Woche mit ihrem erbärmlichen Wetter überlebt hätten. Programmatisch ging‚s mit ≥Guilty Guitars„ los, und der Titel der Konzertreihe im Forum weist schon darauf hin, dass es da eher nicht um die Tapping-Künste eines Eddie van Halen geht. Keith Rowe war zu Gast, und der ist für die Gitarre bekanntlich das, was John Cage für das Klavier war ˆ ein großer Präparator vor dem Herren. Unter Zuhilfenahme von Radios, Metallschwammerl und einem Miniventilator würgte, schabte und blies Rowe auch noch das letzte Geräusch aus seinem am Tisch montierten Griffbrett. Extremely guilty.

   Donnerstag, 30.9., und Freitag, 1.10. Das Forsythe-Stück gelang so erstaunlich gut, dass wir dem Choreografen gleich zwei Mal die Aufwartung machten (s. unten). Am Freitag ging‚s zuvor aber in den Citypark, dort hatte sich das Theater im Bahnhof (TiB) versammelt, um den ≥Tod eines Bankomatkartenbesitzers„ postdramatisch zu beklagen. Überraschenderweise hat das TiB eine eher klassische Bühnensituation in das Shoppingcenter gebaut. Dabei hätten die Kopfhörer, über die man als Theaterkartenbesitzer die Bankomatkartenbesitzertexte des TiB empfing, durchaus mehr Bewegung im Konsumraum erlaubt, hätten die rund um ein fiktives Promotionevent gebauten Dialoge und Live-Interviews mit Einkäufern über Schulden, Sühne und Sonderangebote eine gruselige Klangfolie für die ganz normalen Schrecken des Ortes abgegeben. Schon mal unter den Palmen am Panorama Platz gesessen? Oder in der ≥Spieleburg„ unter dem wahnsinnig grinsenden Plastikbaum? Auf der ≥Bühne„ ging es viel harmloser zu.

   Im Forum war dann noch die verspielte Fluxus-Peformance ≥Not every object used to nail is a hammer„ von Gaëtan Bulourde und Olivier Toulemonde zu sehen. Es war beruhigend zu erfahren, dass man als Mensch nicht nur vor der Wahl steht, entweder Gutes oder Schlechtes zu tun. Nein, man kann auch gar nichts machen. Es gibt eine Alternative, Frau Thatcher. Ausklang mit Rainer Binder-Krieglstein und Sir Tralala, der an diesem Abend so gar nicht tralala klang, sondern fast anthonyeske Balladen zu Binders Beats zauberte.

   Samstag, 2.10. Da ist etwas schiefgegangen: Kurz vor dem Finale ˆ nach täglich mehr als zwölfstündigem Konzertieren an acht aufeinanderfolgenden Tagen ˆ musste Marino Formenti gegen 21 Uhr seine Ausdauerperformance im Stadtmuseum unterbrechen. Die Besucher der ≥Langen Nacht der Museen„ hatten derart rücksichtslos Lärm gemacht, dass Organisatorin Ute Pinter gegen das Schweigegebot in der ≥Kapelle„ verstoßen und verkünden musste, Feldmans ≥For Bunita Marcus„ werde erst nach einer einstündigen Pause ein letztes Mal erklingen.

   Die Wartezeit im Festivalzentrum zu verbringen, war auch keine gute Idee. Vor dem ≥Casino of Tricks„ des total geheimen geheimagentur-Kollektivs warteten Menschenschlangen, um private Tricks zu barer Münze zu machen. Dazu muss man echt in Stimmung sein. Dann hat auch noch das Gérald-Kurdian-Konzert später begonnen, dafür war‚s, als wir ins Stadtmuseum zurückfanden, dort schon wieder zu Ende. Saties ≥Pièces Froides„, mit denen Formenti schloss, haben wir dann eben zu Hause noch einmal gehört. Aber so lässig, so zeitlos, so ≥kalt„ wie Formenti kriegt Reinbert de Leeuw das nicht hin. ≥Nowhere„ wird jedenfalls als herbst-Höhepunkt nur schwer zu schlagen sein.

   Sonntag, 3.10. Ein Überraschungshit am Schluss: Der in Schwarz-Weiß gedrehte 3-D-Film ≥All Inclusive„ der Filmemacher von Zapruder, der im Orpheum lief, erlaubte erstaunlich tiefenscharfe Blicke auf die Themen Arbeit, Ausbeutung und Verausgabung im Spätkapitalismus. Der Plot: Die frisch eingestellte Direktorin Ambra nimmt ihren Job im Hotel Joule derart ernst, dass sie Mitarbeiter, die nicht spuren, einfach um die Ecke bringt. Ein fantastischer Gegenschnitt: der zweite Zapruder-Film ≥Joule„, diesmal in Farbe, für den man sein Eigengewicht in den Dom im Berg schleppen, also selbst ein paar Joule verbrennen musste. Dort ging es in einer Reihe statischer Einstellungen ˆ zwei Mädchen an einem Arcade-Tanzspiel, Schmetterlinge, die ohne sich fortzubewegen mit den Flügeln schlagen ˆ um Energieverbrauch oder Arbeit, die im kapitalistischen Sinn unproduktiv ist. Nutzlos? Klar, aber ˆ auch diese Woche dürfen wir einen Gruß von Georges Bataille bestellen ˆ macht nicht das Unnütze, das Überflüssige oft auch am meisten Spaß?

   Thomas Wolkinger ist ständig im steirischen herbst unterwegs

Thomas Wolkinger



created with wukonig.com