Pressestimmen


Falter - 29.09.2010
Hanns? John! Wo sind eigentlich die guten, alten Zeiten hin?
Was ein Festivalbesucher in Graz so alles erleben kann

Donnerstag, 23.September Liebes Tagebuch! Mit dem steirischen herbst ist es wie mit fast allen Dingen ˆ er hat zwei Seiten: Da freut man sich, dass nach dem elenden August wieder was los ist in der Stadt, hat aber auch ein wenig Angst. Weil plötzlich derart viel los ist, dass man zu sonst nichts mehr kommt. Aber Halt! Für Quereinsteiger: Was ist der steirische herbst eigentlich? Lassen wir eine Fremdenführerin sprechen, die an diesem herrlichen Herbsttag eine Fuhre Touristen im Cabriobus zum Kunsthaus karrt: ≥Den steirischen herbst gibt es seit 1968, er ist ein Avantgardefestival, und das hat sich bis heute gehalten. Er hat jedes Jahr ein Thema, und das ist eine Skulptur von Franz West.„ Dabei zeigt die Frau auf das rosa Riesen-Epoxyd-Testikel (≥Ein Hod„), das West letzte Woche vor der blauen Blase abgestellt hat. Fehlt bloß noch eine Prostata.

   Den zahlreichen Touristen in der Stadt wird auch entgegenkommen, dass das Thema, das der herbst ja, wie wir jetzt wissen, jedes Jahr hat, diesmal dreisprachig formuliert ist. Um ≥Meister, Trickster, Bricoleure„ geht es, um den virtuosismo, um mit dem alten Marxisten Paolo Virno zu sprechen und vielleicht auch die Graz-Besucher aus Italien ins Vaporetto zu holen. Virtuos übrigens auch die Terminplanung der Grazer Gemeinderäte, die für Donnerstag ˆ traditionell der herbst-Eröffnungstag ˆ eine Sitzung anberaumt hatten. Der herbst hatte seine Eröffnung also auf Freitag verschoben, doch, oh Wunder, der Ansturm insbesondere der schwarzen Gemeinderäte hielt sich trotzdem in engen Grenzen. Die ÖVP-Abgeordneten zogen es offenbar vor, sich beim zeitgleich am Karmeliterplatz angesetzten Schlagerreigen mit den Seern für den Wahlsonntag aufzuwärmen. Ob Hanns Koren, der große Kulturpolitiker der Volkspartei, das im Sinn gehabt hat, als er schrieb, dass Heimat mit ≥Tiefe„ zu tun habe?

   Ein erster Vorab-Rundgang durch die herbst-Ausstellungen ergab jedenfalls ˆ auf die Schnelle ˆ folgende drei Lieblingsarbeiten: 1. ≥Tisch 6„ von Matts Leiderstams leidenschaftlichem ≥Grand Tour„ durch die europäische Cruiserszene respektive Kunstgeschichte im Grazer Kunstverein (siehe Falter : Woche); 2. die ≥Nachtstücke„-Vitrine von Sylvia Henrich in der ≥Milk Drop Coronet„-Schau bei Camera Austria; 3. das Disaster-TV-Wohnzimmer von Christoph Draeger & Reynold Reynolds im Kunstverein Medienturm (≥Verbotene Liebe„).

   Freitag, 24. September Heute ging‚s auch für Nicht-Journalisten richtig los. Sabine Breitwieser eröffnete am Nachmittag den ˆ nach dem Auftakt 2009 ˆ zweiten Teil von ≥Utopie und Monument„. Die Schau im öffentlichen Raum hat den herbst-Projektmanagern einiges an Meisterschaft abverlangt, nicht immer hat die Kunst gegen Eventmanager, Bürokraten oder Wahlkämpfer obsiegt. Ângela Ferreiras Soundskulptur ≥Cape Sonnets„ etwa musste in den Volksgarten ausweichen, weil die ÖVP den Pfauengarten mit Chemieklos für ihre Seer-Sause verstellte. Tiefer als tief!

   Hoch her ging‚s dafür bei der Performance zur Erstentflammung von Paulina Olowskas nostalgischen Neonreklamen am Andreas-Hofer-Platz. Am Dach des Tankstellen-Rondeaus verlas Ryszard KaBowski die Schriftzüge aller 1617 Neons, die seine Firma Reklama in den Sechzigerjahren in Warschau hergestellt hatte. Der Anzahl an ≥Bars„ nach, die Pan Ryszard da auf seiner Liste hatte, muss es damals recht fröhlich zugegangen sein. Auch ein ≥Robotron„ war unter den Reklamen. Und eine ≥Veronika„. Was elegant zur herbst-Eröffnung überleitet, die Intendantin Veronica Kaup-Hasler eine Stunde später in der List-Halle vorbereitet hatte.

   Die Eröffnung. Wir haben hier über die letzten Jahre oft gelästert. Heuer nicht. Heuer war‚s annähernd perfekt. Christine Gaigg, Bernhard Lang, Winfried Ritsch und Philipp Harnoncourt haben mit ihrer ≥Maschinenhalle #1„ so etwas wie eine Schönberg-Maschine mit einem Cage-Cunningham-Twist geschaffen, eine betanzte Zwölftonzufallstastatur. Aus der strengen Anordnung für zwölf Automatenklaviere und ebenso viele Tänzer gehen jedenfalls mindestens zwei Dissertationen auf der Musikuni raus. Die herbst-Besucher durften sich auch an den sinnlichen Qualitäten des Diskursmonsters erfreuen, die Konzentration hielt bis zum Schluss an. Groß!

   Samstag, 25. September Unsereiner hat ja schon die meisten Ausstellungen gesehen, kann also den traditionellen Vernissagen-Parcours schwänzen und zu Marino Formenti ins Stadtmuseum flüchten. Am Boden ausgebreitete Matratzen, ein Tischchen mit Noten, Wasserkocher und Obst, ein Bösendorfer. Acht Tage lang wohnt hier der frühere Pianist des Klangforums und empfängt täglich von 10 bis 22 Uhr Zuhörer, während er Stücke von Erik Satie, Morton Feldman und Klaus Lang zum Besten gibt. An diesem Tag hat sich Formenti bereits um 8.12 Uhr mit Saties ≥Pièces froides„ aufgewärmt, später standen am Programm: die Uraufführung von Klaus Langs ≥now.here 1„ oder Morton Feldmans ≥For Bunita Marcus„. In nur neunzig Minuten ins Nirwana! Hingehen, echt.

   Es schadet übrigens auch nicht, vor dem Besuch bei Formenti wieder einmal John Cages Klassiker ≥Silence„ zur Hand zu nehmen. Definitiv sollte man das tun, bevor man die Installation ≥155h 4´33´´„ der Concha Jerez in der ESC aufsucht. Obwohl: Uns hat‚s nichts genutzt, so spröde ist die Raum- und Zeitvermessung der spanischen Küstlerin geraten. Ein paar Häuser weiter fand Samstagnachmittag noch ein denkwürdiger Moment statt. Da ging‚s auch lauter zu! In einem leerstehenden Geschäftslokal schenkte das Kunstkollektiv qujOchÖ herbst-Intendantin Veronica Kaup-Hasler unter notarieller Aufsicht ein Sparbuch, auf das die Linzer ihr Produktionsbudget in Höhe von 16.576,03 Euro eingezahlt hatten. Einzige Bedingung: Der herbst darf erst in hundert Jahren darauf zugreifen, dann wird das Kapital auf eine Million Euro und 30 Cent angewachsen sein. Das heißt, falls die Zinsen davor nicht abgeschafft werden. Dafür freilich spricht einiges.

   Die erste herbst-Premiere ˆ von Gisèle Vienne (siehe S. 50) ˆ war cool, Annie Dorsens ≥Hello Hi There„, der Dialog von zwei Chatbots über eine historische TV-Diskussion zwischen Noam Chomsky und Michel Foucault, auch recht lustig. Sagt ein Bot zum anderen: ≥I‚m immortal. The audience is dying all the time.„ Dabei wirkten die alle ganz lebendig. Auch nachher im Forum Stadtpark, das heuer ein wirklich schickes Festivalzentrum abgibt. Im generalüberholten Forum-Keller gab‚s Neonpop von Notic Nastic, oben Rote Rübensuppe unter fahrbaren Feigenbäumen. Ist doch was!

   Thomas Wolkinger ist ständig im steirischen herbst unterwegs

Thomas Wolkinger



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