Pressestimmen


Die Presse - 09.10.2010
Frau Jelinek entflammt im argentinischen Theater
Uraufführung "steirischer herbst". Mariano Pensottis "Enzyklopädie des ungelebten Lebens" macht aus 23 zum Teil hochwertigen literarischen Vignetten ein melancholisch-witziges Stück über das Versäumen.

Ein kleines Umstandswort ist wesentlich für die fünf Schauspieler, die in 30 Szenen die "Enzyklopädie des ungelebten Lebens" spielen. "Jetzt!" sagen sie am Scheitelpunkt jeder Sequenz in einer der drei Boxen, ihren Zellen der Fantasie, die abwechselnd bespielt werden, während der Text per Mikrofon vorgetragen wird. "Jetzt!" Dann greift einer der Darsteller, der Beobachter, zur Polaroid-Kamera und hält diesen Moment fest, der doch nur Fantasie geblieben ist. Denn der argentinische Regisseur Mario Pensotti hat 18 Schriftsteller aus aller Welt darum gebeten, in kurzen Texten Augenblicke zu notieren, "die wir hätten leben sollen, anders leben sollen - aber wie?" Aus diesem Projekt im "steirischen herbst" wurde, wie die Uraufführung am Donnerstag auf der Probebühne des Schauspielhauses Graz zeigte, ein melancholischer, witziger Abend, in den besten Momenten im Sound der Sixties und Seventies (Musik: Diego Vainer), voller Überraschungen, mit unterschiedlichen Niveaus.

   Die Fotos, die im Jetzt entstehen, werden an die Wand geklebt. Hunderte Polaroids säumen bereits zu Beginn den Weg zum Zuschauerraum, nach der Vorstellung sind es ein paar Dutzend mehr (Bühne und Kostüme: Mariana Tirantte). Pensottis Projekt ist offenbar ein Work in Progress. Wie also sind diese 23 Briefchen, die neueste Literatur betreffend, verortet, im "herbst", der sich programmatisch der Virtuosität und anderen Taschenspielereien widmen will? Die europäischen Texte sind zumeist erotisch aufgeladen, also zeitlos, die lateinamerikanischen, vor allem auch die von Pensotti, sind politisch, vom simplen Generationenkonflikt bis zur Bewältigung der bösen Vergangenheit in ehemaligen Diktaturen.

   Mayröckers Liebeswahn im Kaffeehaus

   Auf solche Trivia, auf heikle historische Gabelungen, lassen sich die großen Damen der österreichischen Literatur nicht ein. Herausragend ist das Dramolett von Friederike Mayröcker, die zum Stichwort "Kaffehaus" in 35 Zeilen ein ganzes versäumtes Leben schafft: "Ich war so sicher gewesen, aber er war mir entschlüpft . . .", heißt es, auf dem Weg zurück zur Realität. Da ist bereits ausgemacht, "dass die Ahnung von den Dingen am Anfang jeglichen Wissens stehe".

   Das Objekt der Begierde bei Elfriede Jelinek ist ein Streichholzköpfchen, "noch brennend, vom Zündholz ab und in meinen Pelzmantel hinein", ein kleines Malheur bei einer Begegnung mit einem Mann, die dann wegen der Abwehrhaltung der Erzählerin doch ein Treffen ohne Folgen blieb, eine Nichtbegegnung fast. Das Zündholz aber, das Brennen, bleibt in Erinnerung, als Geheimnis, ein Augenblick "und gleichzeitig endlos".

   Dinge lösen die Erinnerung aus für dieses fiktive Jetzt; zwischen Publikum und Bühne haben Rahul Chakraborty, Sophie Hottinger, Verena Lercher, Claire V. Sobottke und Leon Ullrich wie Straßenverkäufer eine Fülle an Objekten in nur von ihnen durchblickter Ordnung ausgebreitet, die für die einzelnen Szenen verwendet werden. Da verpuppt sich einer zum Stichwort "Umzug" (Gerhild Steinbuch) zum Spiderman. Zur "Disjunction" (Ivana Sajko) werden Möbel, WC-Ente und Eimer zur Installation aufgetürmt.

   Und immer wieder dazwischen, in Endlosschleife, hört man in kurzen Sequenzen die traurige Geschichte von den "Kirschen" (Clemens J. Setz). Da will ein Mann von einer Wahrsagerin wissen, wie die Zukunft sein werde. Sie prophezeit in immer neuen Variationen, dass der Fragende an einem Kirschkern ersticken werde. Alle ereilt das Schicksal. Bis auf einen. Der nimmt einen anderen Weg an der Abzweigung. Er wählt das wirkliche Leben, spuckt aus. Zum Nachteil der grausamen Prophetin. Termine: 9. und 12. Oktober, 20 Uhr, Schauspielhaus Graz. Probebühne. Tel.: 0316/8000


Norbert Mayer



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