Pressestimmen


Kronen Zeitung - 20.09.2010
"Die Musik kennt keine Rezepte"
Der Pianist Marino Formenti lebt und spielt acht Tage im Grazer Stadtmuseum

Von 25. 9. bis 2. 10. wird Marino Formenti ins Stadtmuseum einziehen, dort leben, proben und zeitgenössische Musik aufführen. Von 10 bis 22 Uhr stehen dem Publikum die Türen offen. Mit dem Projekt von "steirischen herbst", "open music" und ORF-"musikprotokoll" will der Virtuose die Unterscheidung von Kunst und Leben aufheben. Wir sprachen mit dem Pianisten.

Marino Formenti: Geboren in Mailand, seit 20 Jahren Wiener

Sie haben kürzlich in St. Gallen ein Konzert am frühen Morgen gegeben, nun treten Sie zu der achttägigen Performance "Nowhere" an. Was reizt sie so daran, aus der konventionellen Konzertdramaturgie auszubrechen?

"Wir verlangen für den Menschen die maximale Freiheit und vom Künstler die maximale Eigenständigkeit, gleichzeitig aber leben und arbeiten wir innerhalb vorgegebener Strukturen, die diese Freiheit eher töten als fördern. Das Konzert wie wir es kennen, mit frontal und ruhig sitzendem Publikum ist im 19. Jahrhundert, also unter völlig anderen, eigentlich monarchischen Bedingungen entstanden. Ich möchte diese Formen nicht abschaffen, doch wenigstens hinterfragen."

Werden Sie sich immer in diesem einem Raum im Stadtmuseum aufhalten?

"Die Idee ist, dass es zwischen meinem Leben und der musikalischen Aufgabe, der Performance also, keinen Unterschied mehr gibt. Die einzige gestattete Alternative ist die Toilette."

Wie ist der Raum ausgestattet?

"Mit einem Klavier, einem Bett und Plätzen für das Publikum - vor allem Matratzen, worauf man sich entspannen und zu 100 Prozent der Musik widmen soll. Ich möchte mit ,Nowhere der Stadt Graz eine heidnische Kapelle für eine Woche schenken."

Warum spielen sie Klaus Lang und Morton Feldman?

"Mit ,Nowhere untersuche ich die Grenze zwischen Erhabenem und Alltäglichem. Alfred Brendel kommt übrigens auch immer wieder auf den Begriff des ,umgekehrten Erhabenen zurück: es ist der Punkt, an dem man nicht mehr etwas Großes will - die einzige Voraussetzung, das man vielleicht etwas Großes schafft. Das ist auch, vereinfacht gesagt, der Punkt, an dem sich Feldman und Lang treffen, und Erik Satie, den ich ja auch spiele. Morton Feldman sagte immer ,Don't push the sounds around, verzichtet auf Gebärden, lasst die Klänge ihr Leben leben. Klaus Lang hat in diesem Sinne für ,Nowhere musikalische ,Exerzitien komponiert. Ein Platz, wo Verschwinden und in Erscheinung treten ein und dasselbe sind. Das ist übrigens ein grundlegendes musikalisches Prinzip."

Haben Sie schon einmal so ein Experiment gemacht?

"Vor ein paar Jahren in Wien habe ich zur Vorbereitung auf eine Performance wochenlang mein ganzes Leben samt den vielen Stunden des Übens gefilmt. Meine Vorbereitung war so allumfassend wie es nur ging. Das war ein sehr glückliches Gefühl, dass das eigene Leben und die Musik ein und dasselbe sind. Ab dem Moment fing ich an, über ,Nowhere nachzudenken."

Stellen Sie eine spezielle Erwartung an das Publikum, wie es auf eine solche Situation reagieren soll?

"Es ist schon ein ganz kleiner Stoß in Richtung Freiheit, den ich da geben möchte. Vielleicht ziehen ein Paar Grazer Hausfrauen (oder Hausmänner), die mich im Schaufenster sehen, mit mir da ein und hören den ganzen Tag lieber Musik, anstatt ins Büro zu gehen oder etwas zu kochen."

Haben Sie Angst vor dieser Ausnahmesituation?

"Natürlich, und zwar große. Die gibt es aber so oder so, also lieber die Flucht nach vorne ergreifen "

Warum haben sie begonnen, sich für zeitgenössische Musik zu interessieren?

"Es gibt für mich nur zeitgenössische Musik. Beethoven ist zeitgenössisch. Was mich heute nicht anspricht, ist ja tot. Wir haben grundsätzlich zwei Arten, Musik und Kunst zu betrachten. Die eine wäre: ich habe ein Rezept, wie man es macht, das betrifft die Komposition und auch die Interpretation. Das ist aber keine Art, Musik zu machen, denn Musik, wie die Liebe, wie das Leben, kennt leider keine Rezepte, die einmal gelernt, immer gleich funktionieren. Die andere ist: sich auf eine sich ständig in Frage stellende, ständig erneuernde Suche zu begeben. Durchs Leben mit einem Wagerl namens Neugierde zu fahren. Wenn man das einsieht, bleibt einem nicht viel übrig, als auch die Herausforderungen der Moderne entgegenzunehmen."

In Anbetracht all der Komponisten von Giacinto Scelsi bis Salvatore Sciarrino - warum ist Italien ein so fruchtbarer Boden für Neue Musik?

"Ich bin ein Wahlwiener seit 20 Jahren und kenne die italienische Musik eher aus dieser Perspektive. Wie alle Österreicher liebe ich aber die italienische Kunst. In Italien hat es, ähnlich wie in Deutschland, eine künstlerische Szene gegeben, die zum Aufbruch ins Neue bereit war. Das hatte einerseits Wurzeln in der kulturellen Tradition des Landes und lag andererseits in der Notwendigkeit, die Lähmung durch die Diktatur zu überwinden. Leider ist in den letzten 20 Jahren vieles verloren gegangen. Es gibt allerdings noch "berlusconi-resistente", mutige Männer und Frauen, die sich in der Kunst und der Musik auf ein wahres Abenteuer einlassen wollen."

Martin Gasser



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