Pressestimmen


Salzburger Nachrichten - 12.10.2010
Drei Kojen voller Versäumnisse
steirischer herbst: Uraufführung der "Enzyklopädie des ungelebten Lebens"

 Eine Annäherung kommt von Elfriede Jelinek: "Mein ungelebter Augenblick ist, dass ich immer weggehe, aber keine Ahnung habe, von woher ich wohin gehe." Unwissenheiten, Unsicherheiten, verpasste Chancen, mehr oder weniger tolldreiste Versäumnisse: Das ist der Stoff, aus dem der argentinische Regisseur Mariano Pensotti für den steirischen herbst eine Buchstabenrevue von A wie Actor bis Z wie Zündholz entworfen hat: "Enzyklopädie des ungelebten Lebens".

   19 internationale Autorinnen und Autoren wurden von Pensotti um Textspenden gebeten, die dieser selbst auf der Probebühne des Grazer Schauspielhauses in Szene setzt. Die Miniaturen unter anderem von Händl Klaus, Gerhild Steinbuch, Andrzej Stasiuk, Kathrin Röggla, Lola Arias oder Marcus Steinweg können sich in drei engen Kojen entfalten. Der jeweilige Titel flackert auf und schon wird gespielt. Ein Quintett gibt vor, frei zu improvisieren, ergreift die vor den Kojen aufgelegten Requisiten: Teddybär, Einkaufswagen, Sehnsuchtsposter, Hühnergreiferkostüm und noch vieles mehr. Musik etwa von Devo, Madonna, New Order oder Michael Jackson begleitet die fiktiven, weil ungelebten Momentaufnahmen diverser zwischenmenschlicher Beziehungen. Wenn sich die Imagination der Akteure verdichtet, rufen sie "Jetzt", was als Kommando für eine Aufnahme mit der Sofortbildkamera gilt. Wenn das Publikum die Probebühne verlässt, trifft es auf diese an die Wand geklebten eingefrorenen Augenblicke.

   Es ist ein Abend der Wechselbäder, qualitativ wie inhaltlich und formal. Auf langatmige oder zu offensiv umgesetzte Sequenzen folgen berührende, intensive Momente. Vom Nachtrauern über ein nicht zustande gekommenes amouröses Abenteuer ("Kaffeehaus" von Friederike Mayröcker) bis zur aberwitzig melancholischen, mehrteiligen "Kirschen"-Schicksalssaga von Clemens J. Setz: Mit viel Esprit und Liebe zum Detail erfüllt Pensotti die Mikrodramen der verpassten Momente mit Leben. Das kurzweilige Theater-Kaleidoskop des argentinischen Regisseurs und Autors passt gut in das vorwiegend mit Miniaturen gefüllte herbst-Programm: weg von der großen Premiere, hin zum grenzüberschreitenden Bühnenkleinod.

   So lud das britisch-italienische Duo Jonathan Burrows/Matteo Fargion zur sprachmusikalischen Performance "Cheap Lecture & The Cow Piece". Zwei Stücke mit (mindestens) drei Gemeinsamkeiten: Rhythmus, Originalität, Witz. Die beiden Herren referierten über Musik, Tanz, performative Kunst und hantierten lustvoll mit Spielzeugkühen aus Plastik: geistreich und amüsant.


Martin Behr



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