Pressestimmen


Der Standard - 11.10.2010
Blech-Maria, Plastik-Kühe und ungelebte Leben
Auch am dritten Wochenende spielte der Steirische Herbst leichtfüßig und tiefsinnig mit dem Begriff Virtuosität: Roboter träumen im Kunsthaus, Literaten im Theater, und Denker trafen sich im Forum Stadtpark.

Manche Menschen machen sich Listen über Dinge, die sie noch vor ihrem Ableben erleben möchten. Der argentinische Autor und Regisseur Mariano Pensotti hingegen bat 18 Schriftsteller und Dramatiker aus aller Welt um Texte über das ungelebte Leben. Selbst fügte er noch einen neunzehnten hinzu und machte daraus eine Enzyklopädie des ungelebten Lebens - und einen gleichnamigen kurzweiligen Theaterabend.

   Autoren wie Elfriede Jelinek, Gerhild Steinbuch, Händls Klaus, Friederike Mayröcker, John Jesurun oder Lola Arias erörterten das "Ungelebte" einerseits im Sinne von versäumten Chancen, andererseits in der Form noch nicht gelebten Lebens, also der Zukunft.

   Auf der Probebühne am Grazer Schauspielhaus versuchte Pensotti, die Sprachgewalt unterschiedlichster Schreiber in knappe eineinhalb Stunden zu packen, was nicht jedem Text - etwa dem Jelineks - gerecht wurde. In drei Boxen, eine blaue, eine grau, eine orange, halten die Schauspieler immer wieder die Zeit an, um Momentaufnahmen des Lebens mit der Polaroidkamera zu machen. Das Spiel von Sophie Hottinger und Rahul Chakraborty ist dabei das intensivste.

   Rebellische Denk-Maschinen

   Im Grazer Kunsthaus befasst man sich seit Freitag mit dem Innenleben von Maschinen, mit der Entwicklung künstlicher Intelligenz und der verschwimmenden Grenze zwischen Science-Fiction, Wissenschaft und der Reaktion der Kunst darauf. Die Ausstellung Roboterträume ist eine Kooperation mit dem Tinguely-Museum in Basel; der Titel bezieht sich auf eine Kurzgeschichte von Isaac Asimov, in der ein Roboter von Rebellion träumt. Fast die Hälfte der Arbeiten von mehr als 20 Künstlern wie Richard Kriesche, Nam June Paik, Virgil Widrich oder Jon Kessler wurden eigens für die Schau gemacht. So etwa John Dekrons interaktive Installation Atorot . Kunsthaus-Intendant Peter Pakesch sieht die Roboterträume als "Weiterentwicklung der kinetischen Kunst", mit der sich das Haus 2004 in der vielbeachteten Ausstellung Bewegliche Teile auseinandersetzte. Einer der "Stars" in der blauen Blase ist die Maria des Niederländers Yan Duyvendak, ein Nachbau der Roboterfigur aus Fritz Langs Metropolis , die als die erste mechanische Spielfilmhauptrolle überhaupt gilt und bis heute Einfluss auf Robotergeschichten hat.

   Die diesjährige Herbst-Konferenz war eine der "Meister Trickster, Bricoleure" und versammelte eine besonders schillernde Runde im temporären Casino of Tricks im Forum Stadtpark, einem Ort, an dem geheimes Wissen in bare Münze verwandelt werden kann - der Standard berichtete. Eröffnet wurde die Tagung am Samstag mit einem Vortrag von Ole Frahm, der Einblicke in seine subversive, witzige und durch das Einbinden von Menschenmassen zwingend auch virtuose Arbeit mit dem Hamburger Kollektiv Ligna gab. Das Radio-Ballett, bei dem die Gruppe Menschen über Kopfhörer gesteuert synchrone Bewegungen auf dem Hamburger Bahnhof vollziehen ließ, war ein Versuch, privatisierten Raum wieder zu erobern. Das Ballett wurde trotz Verbots durchgeführt. Über sogenannte Flashmobs sagt Aktivist Frahm, sie seien selbst dann, wenn ihre Inhalte nicht politisch sind, immer "strukturell politisch" und: "Im Leben geht es nicht um das Einhalten von Regeln, sondern um das Spielen mit diesen."

   Lustvoller Unterricht im Dom

   Am späteren Abend gab es zu dieser These dann noch lustvollen Anschauungsunterricht des Duos Jonathan Burrows und Matteo Fargion, die in ihren beiden Arbeiten Cheap Lecture (einer Anspielung auf John Cages Cheap Imitation ), und dem Cow Piece atemberaubend mit Sprache, Sprachmelodie, sinnentleerten Ritualen und kleinen Plastik-Kühen spielten. Einer der vielen schönen Momente in einem Festival, dessen Programmierung heuer Überraschungen zu bieten hat.

   Den Abschlussvortrag der Konferenz hielt Samstagabend Medientheoretiker Friedrich Kittler, der unterhaltsam den Begriff des Virtuosen - im Alten Rom beginnend, über Paganini bis zu Thomas Edison - hinterfragte.

Colette M. Schmidt



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