Pressestimmen


Standard - 18.09.2010
Modern gesagt: Multitasking
Vom Virtuosen bis zum Dirigenten war es nur ein Schritt. Seit der Romantik nämlich ging es nicht mehr nur darum, einen Takt mit schwerem Stock zu schlagen ...

Es ist schwer, im Schreiben Virtuosen zu beschwören. Die Sätze sollten ganz so geistesgegenwärtig sein wie ihre Sache, ihre Helden. Daran ist so mancher schon verzweifelt, der über Hannibal, Napoleon oder Moltke schrieb. Um dieses unbehebbar tiefe Paradox zu lösen, ziehen wir (mit Luhmann) daher die Zeitlichkeit heran. Wie, wann, wozu sind Virtuosen aufgekommen? Wie spielen sie mit unergründlich schneller Zeit? Ein Virtuose hat - dem Wortanschein zum Trotz - mit der Virtus nichts zu tun. Denn Mannestugend war die Sache großer Römer, wenn sie Schlachten schlugen; Virtuosentum gibt es wohl erst seit Paganini, dem Zigeuner unter ortsfest braven Italienern. Der Virtuose ist kein Meister, weil unser deutsches Wort für Meister vom lateinischen Magister stammt, demjenigen, der aus Erfahrung "mehr" als seine Schüler weiß. Das unterscheidet ihn vom Grafen oder Fürsten, der mehr an Macht und Ruhm als seine Krieger hat. Doch selbst wenn der Magister im späten Mittelalter zum Professor wird, erlangt er nicht notwendig auch die Geistesgegenwart, wie sie dem Virtuosen eignet. Jenseits ihres Fachgebiets beherrschen Professoren wahrhaft nichts.

   Und schließlich ist der Virtuose auch kein Bricoleur, der seine Instrumente selbst bastelt, notfalls (wie im Cargokult) aus Restbeständen. Als im Feldzug gegen Japan keusche US-Christen über Neuguinea Büstenhalter regnen ließen, schlangen sie die Frauen schlicht um ihre Hüften. Denn was die Missionare mit der Gabe meinten, erschloss sich ihnen nicht. Paganini spielt und glänzt dagegen nur auf den allerbesten Geigen seiner Zeit, Liszt auf den teuersten Klavieren.

   So treten Virtuosen erst hervor, wenn eine Kunst schon ihren Gipfel überschritten hat. Sie spielen, was in jeder Klassik noch unspielbar hieß. Insofern hexen sie, wie Paganini denn ja auch "Le streghe" komponiert hat. Das Flageolett, die Doppelgriffe und das Pizzicato mit der linken Hand, kurzum die Geige als Orchester, brachten ihm im kaiserlichen Wien erstmals den Titel eines Kammervirtuosen ein. Solange die Komponisten nämlich dabei stehenblieben, nur das zu schreiben, was sie selbst spielen konnten, gab es den Virtuosen nicht. Musik war Handwerk, keine Zauberei. Erst als die Technik über ebenjenen Tonsatz triumphiert, der dem gebildeten Zigeuner in Fleisch und Blut gefahren ist, entdeckt Franz Liszt die Wonnen der "Préludes".

   Mehr als Notenwerte

   Vom Virtuosen bis zum Dirigenten war es nur ein Schritt. Seit der Romantik nämlich ging es nicht mehr nur darum, einen Takt mit schwerem Stock zu schlagen, an dem sich Lully ja dereinst zu Tode verletzt hatte. Vielmehr zauberte ein leichter Stab Figuren in die Luft, wie sie die Partitur schlichtweg nicht hergab. Klänge sind viel mehr als Notenwerte. Dem Dirigenten fiel es also zu, den Instrumenten des Orchesters lauter Klangfarben zu entlocken und so das Ungeschriebene herbeizuzaubern. Das erste Buch über Instrumentierung stammt nicht umsonst von Berlioz. Und falls dem Dirigenten noch die Ehre zufiel, die Klänge seines großen Orchesters mit den Künsten eines Virtuosen zu verschränken, wurde der Gefeierte zum Virtuosen zum Quadrat. (Wie Ligeti indes zu Recht betont hat, ist die motorische Intelligenz nicht alles. Sensorik schlägt die Fingerfertigkeit. Worauf es beim Orchester und beim Dirigieren ankommt, bleibt eine Sinnestäuschung zweiter Ordnung: Die Ohren sollen langsam schwebende Verwandlungen hören, die in den Noten gar nicht stehen). Doch es ging auch anders oder schlichter, seit Musik nicht mehr auf Partituren angewiesen ist. Tonwalzen und Schallplatten, also Edison und Berliner, haben uns den Jazz geschenkt, das Virtuosentum der armen Leute.

   Ella Fitzgerald: "O Mister Paganini, please, play your melody!" Ella hat indes gar keine Geige an der Wange, nur diese ihre Stimme vor dem Mikrofon. So muss sie keine Noten lesen können und nur die Harmonien behalten. So bastelt sie mit ihren "scat vocals" unfassbar schnelle Läufe aneinander, die eines großen Geigers würdig wären. Gegen alle Zeit und Notenschrift gestellt, bringt der Jazz noch einmal Virtuosen auf die Bühne: "A love supreme", wie Coltrane sie besungen und erspielt hat. Das rasante Saxofon und Ellas glockenklare Stimme: Beide lieben sie die höchsten Obertöne, da wo Musik in Flirren übergeht.

   Was also macht den Virtuosen aus? Modern gesagt: das Multitasking, wie es seit Unix die Betriebssysteme dominiert. Kant unterschied den Intellekt des Menschen oder Sterblichen strikt von dem des Philosophen- oder Christengottes: Der eine quält sich seriell durch viele Zeitmomente, der andere prozessiert die Sachverhalte parallel, in einem Nu. Mithin ist der Virtuose wie ein später Abglanz jenes Gottes oder wie ein Vorschein dessen, was den Menschen alsbald überschatten wird.

   Unter den drei Gründervätern des Computeralters - Turing, Shannon und von Neumann - war Shannon der verspielteste (und fand wohl deshalb auch den schönsten Tod). Turings Maschine konnte alles, lief (nach Enzensbergers Einsicht) jedoch unfassbar langsam. Auch die Computerarchitektur von Neumann, die Daten und Befehle seriell verwaltet, ist alles andere als schnell. Beide kamen sie in ihrem Leben zudem der Macht zu nahe. Alan Turings Computer hatten geheime Funksprüche der Wehrmacht (und wohl auch des sowjetischen Geheimdienstes) entziffert; am Ende blieb nur der Selbstmord. Der elegante Janos/Johann/John von Neumann, Erfinder einer mathematisch virtuosen Spieltheorie, kam seiner eigenen Wasserstoffbombe zu nahe und starb qualvoll an Knochenkrebs.

   Das Rätsel der Helden

   Dagegen war Claude Shannon, der mit Alzheimer friedlich verdämmerte, der geborene Jongleur. Der Frage, wie viele Bälle einer in den Lüften balancieren kann und wie sich diese absichtslose Kunst im Lauf der Weltgeschichte ausgebildet hat, ist er in einem schönen kleinen Aufsatz nachgegangen. Der schlanke, lange Shannon huschte durch die langen Korridore der Bell Labs in Murray Hill - wider jede Sitte auf einem selbstgebauten Einrad balancierend. Shannon schrieb ein gereimtes, sehr formstrenges Gedicht, das Rubik's Magic Cube gewidmet war und dessen gelehrte Fußnoten auch die mathematische Formel der zahllosen möglichen Kombinationen beim Lösen jenes Rubikwürfels angaben. Er musste sicherlich bei alldem daran denken, wie sein Auftraggeber, sprich: das Pentagon, wohl einen Angriff vieler russischer Raketen abwehren könnte. Insgeheim jedoch scheint ihm die Frage aufgegangen, was Sterbliche - im Gegensatz zu Göttern - selbst an Göttlichkeit vermögen. Was wohl das Rätsel jedes Helden ist.

   Jongleure machen nicht bloß Spaß wie Ciceros "ioculatores", denen doch das Wort entstammt. Wir danken sie vielmehr dem hohen Mittelalter ganz wie die Ministrels: Spielleute, deren Kunst und Witz den Heldenmut erst sagbar machen. Was hat Homeros dank der Muse alles treulich beieinanderhalten müssen, als er von Achilleus und Odysseus im Wechselspiel mit ihren vielen Göttern sang! Was haben die Zigeuner oder Zirkusleute in sesshaften Territorialstaaten einst durchmachen müssen, bis der Virtuose endlich auch in bürgerlichen Konzertsälen wieder an der Zeit war? Was müssen heute Programmierer alles können, die sich an Echtzeitalgorithmen wagen! Acht Bälle tanzen bei Shannon, acht CPU-Register bei Intel-Computern. Sie tun die ganze Arbeit, weil Speicherzellen oder auch Kanäle selbst nicht rechnen können. Am besten schreibt man daher in Assemblersprache alle die Register schön in parallelen Listen nieder, weil nur die Schrift und nicht die Rede uns Menschen einen Hauch Unsterblichkeit verheißt. Man kombiniert, jongliert und spielt oft tagelang mit seinem Code, bis alle acht Register gleichzeitig belegt sind. Dann lässt man diese vielen beinah unlesbaren Codezeilen endlich in Computern laufen - und selbst ein Schachweltmeister kann geschlagen werden.

   Mit einem lauten Schrei

   So hat es Shannon reimend, träumend, spielend unserer Zukunft vorgelebt. So wird der massiv parallele Quantencomputer es alsbald in Hardware selbst ermöglichen. Denn Parallelität ist Geist, und Virtuosen sind nicht nur die Paganinis, sondern auch und schon die höchsten Künstler. Goethe hat die meisten Reime unserer deutschen Sprache ausgehört, Shakespeare kennt und braucht sowohl auf Angelsächsisch wie auch Normannisch wohl die meisten Wörter. So blüht der Virtuose schon in jedem Kind, das eine Sprache als die Welt lernt.

   Nehmen wir nur einen schlichten Satz, etwa aus fünf Wörtern, als Anfang eines Buches. Jedes dieser Wörter lässt sich als das wichtigste betonen. Also folgen schon aus einem Satz fünf weitere, von denen in den meisten Büchern leider vier schlicht fehlen. Den fünf Folgesätzen geht es ganz genauso. Sie entlassen (wieder bei fünf Wörtern) jetzt schon fünfundzwanzig Sätze. Es ist wie mit dem Schachbrett aus vierundsechzig Feldern. Für jedes dieser Felder wollte einst der Wesir, der das Spiel erfunden hat, vom Kalifen - scheinbar ganz bescheiden - doppelt so viele Reiskörner wie am Anfang haben, der mit einem Körnchen auskam. Der begeisterte Kalif versprach es ihm. Die Ernte von ganz Indien hätte aber nicht als Lohn gereicht ...

   Der Prager Wilhelm Steinitz, Schachweltmeister seit 1886, lief am Ende durch die Straßenschluchten von New York mit einem lauten Schrei. Er fordere Gott zum Wettkampf auf, überlasse ihm die Weißen und den ersten Zug, zum Überfluss sogar noch einen schwarzen Bauern; aber siegen werde er, der Meister, doch. Kein Wunder, dass Steinitz solche Meisterschaft im Irrenhaus vollendete. Der Virtuose, kurz gesagt, wagt sich ins Überpolynomiale - was ihm die Quantencomputer hoffentlich bald nachtun werden.

   Friedrich Kittler ist einer der bedeutendsten deutschsprachigen Medientheoretiker. Er unterrichtet an der Humboldt-Universität zu Berlin. Jüngste Veröffentlichung: "Die letzten Tage der Ceausescus. Dokumente, Materialien, Theorie" (mit Milo Rau, Heinz Bude, Ion Iliescu, Thomas Kunze, Andrei Ujica, 2010).

   Beim Steirischen Herbst 2010 referiert Kittler im Rahmen der Konferenz "Meister, Trickster, Bricoleure". Dieser Text erscheint auch in "herbst. Theorie zur Praxis", dem Magazin zum Steirischen Herbst 2010.

Friedrich Kittler



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