Pressestimmen


Süddeutsche Zeitung - 05.10.2010
Kunst am Rathaus
Der steirische Herbst in Graz als Mekka der Performance

In Graz trag vor allem die Gegensätze auf zum Charme der Stadt bei. Die Annenstraße etwa, die vom Zentrum zum Bahnhof führt, hat etwas Morbides und wirkt, als sei die Zeit in den fünfziger Jahren stehen geblieben. Etwas weiter hin zum Zentrum liegt dann aber plötzlich das Grazer Kunsthaus wie ein futuristisches Ei in der Stadt. Und einige Straßen weiter erhebt sich seit neuestem auch das Haus für Musik- und Musiktheater. Das der Kunstuniversität angegliederte Haus ist ein durchsichtig oszillierender Musikkörper, der innen mit einem fantastischen Konzertraum aufwartet. Hier bescherte die französische Performancekünstlerin Gisèle Vienne dem steirischen Herbst mit "This ist how you will disappear" zum Auftakt des Festivals eine Waldoper der besonderen Art, ein hyperrealistisch anmutendes Gesamtkunstwerk, das im Dezember auch im Münchner Kunstverein zu sehen sein wird: Ein Forst in der glitzernden Morgensonne. Hier hat scheinbar gerade eine Vergewaltigung oder ein Mord stattgefunden. Plötzlich aber steht das "Opfer" auf und dann tanzt Margrét Sara Gudjónsdóttir wie eine Primaballerina, die nebenbei als Kunstturnerin unterwegs ist. Etwas später streut Gisèle Vienne kurze Prosatexte des kalifornischen Autors Dennis Cooper ein, der sich unter anderem den Gewaltfantasien eines Serienmörders widmet. Cooper schlägt dabei einen sachlichen Ton an, Vienne konterkariert das mit emotional aufgeladenen Bildern.

   Ihre eigentliche Kunst besteht darin, die Beiträge ganz unterschiedlicher Künstler so zu mischen, dass daraus eine Bühnenerzählung wird. Man ist gefangen in klaustrophobischen Atmosphären, die von Klangteppichen des Dark- Metal-Stars Stephen O'Malley und des Elektronikmusikers Peter Rehberg sowie von Nebelwänden der japanischen Künstlerin Fujiko Nakaya umhüllt werden. Nakaya pustet diese Sturznebel derart gezielt und vehement in den Seh- und Klangraum, dass man permanent mit dem Hustenreiz rechnet, den künstlicher Bühnennebel nun mal hervorruft. Die Japanerin arbeitet allerdings nur mit dem Material, das die Natur auch zur Verfügung stellt: Kondenswasser, das für die Haut sehr gut sein soll.

   Man nimmt zur Kenntnis, dass performatives Theater auch ayurvedische Effekte haben kann, fragt sich einen Tag später dann aber schon, ob Annie Dorsens virtuelles Geplauder zweier Sprechroboter ähnlich positive Auswirkungen auf die Zukunft der menschlichen Kommunikation haben wird. Die New Yorker Regisseurin verarbeitete die legendäre TV-Debatte des Philosophen Michel Foucault und Linguisten Noam Chomsky aus dem Jahr 1971 zum virtuellen Gespräch zweier Textmaschinen. Solche Chatbots wie in "Hello Hi There" sind mit Text gespeiste virtuelle Gesprächspartner, die sich im Computer semantische Spielbälle zuwerfen. Die Suggestion: Auch das philosophische TV-Gespräch bedient sich einer vorgefertigten Semantik und ähnelt dem korrekten Abhaken von Themen und Floskeln, mit denen Dorsen die Sprechmaschinen fütterte. Klar wird aber auch, dass bereits das Streitgespräch zweier Schulkinder wesentlich komplexer ist, als es ein Automatendialog unter Umständen jemals wird sein können. Das Ganze fand im Dom im Berg statt, einer künstlichen Halle im Grazer Hausberg. Da fühlt man sich geborgen wie in einer Höhle, meint aber auch, bereits mitten in einer der Installationen zu weilen, mit denen der steirische Herbst seit letztem Jahr die Grazer Innenstadt kommentiert.

   Die grundsätzliche Frage der Künstler lautet dabei: Was kann Kunst im öffentlichen Raum leisten, wenn doch schon immer die Intentionen der Auftraggeber mit im Spiel sind? Was ist von Orten und Plätzen zu halten, aus denen in den letzten Jahrzehnten ein öffentlicher Marketingraum wurde? Die Reaktionen der Künstler reichen von spielerisch bis provokant. Die Berlinerin Isa Gensken ließ über den Mariahilferplatz eine überdimensionale Wäscheleine spannen und mit Stücken behängen, die wie zu groß geratene Handtücher wirken. Mit denen spielt nun der Wind, während der Grazer Michael Schuster über dem Haupteingang des Rathauses die Lichtanstallation "AUFEINWORT" anbringen lassen wollte, was Oberbürgermeister Siegfried Nagl (ÖVP) aus "denkmalschützerischen" Gründen untersagte. Die Veranstalter des steirischn Herbstes haben daraufhin Anzeigen in verschiedenen Tageszeitungen gestaltet, auf denen die Lichtinstallation als Fotomontage zu sehen ist. So kam der Grazer Oberbürgermeister am Ende doch noch zu seiner Kunst am Bau.

Jürgen Berger



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