Pressestimmen


Wiener Zeitung - 28.09.2010
Die steirische Fichte im Unterholz
Der Steirische Herbst ist in voller Blüte. Getanzte Klänge in der Herbstnebelsuppe. Erste Franz-West-Schau im Grazer Kunsthaus.

Graz. Es war höchst an der Zeit, dass man die Minimal Music neu erfindet. Am Eröffnungsabend des Steirischen Herbstes war es endlich so weit. So vertraut das tönende Ergebnis anmutete, der Weg dahin war zumindest originell. Die Helmut-List-Halle war zur "Maschinenhalle #1" mutiert. Zwölf Metallplatten, jeweils etwa zwei mal ein Meter, dienten eben so vielen Tänzern als Podien. Diese Metallflächen waren mit Sensoren ausgestattet. Hinter jedem Podest ein Pianino mit elektronisch betriebenem mechanischem Hebelwerk, das auf die Tasten drückte.

   Und wie nun die Tänzer sich bewegten, wurden wie von Geisterhand pianistische Patterns freigesetzt: dutzendfach und noch viel öfter wiederholte Motive, die einander überlagerten, ergänzten, verdichteten. Je mehr Tänzer beteiligt waren, desto dichter Klang und Harmonie. Es machte natürlich einen Unterschied, ob die Mädchen und Burschen nur mit den Zehenspitzen oder Gliedmaßen ans Metall tippten (duftige Tongespinste) oder ob sie sich wuchtig auf die Platte knallen ließen. Und auch das Darüber- wischen brachte entsprechenden Effekt.

   "Maschinenhalle #1" war eine Gruppenarbeit der Choreographin Christine Gaigg, des Regisseurs Philipp Harnoncourt, des Komponisten Bernhard Lang und des Tontechnikers Winfried Ritsch. Wie gesagt: Das tönende Ergebnis war überschaubar und so innovativ nicht, aber die Methode hatte gehörigen Schauwert. Und für das Publikum ist die eigentliche Genese ja so augenfällig auch wieder nicht gewesen. Wie weit generierten die Tänzerinnen und Tänzer selbst die Musik, wie weit "regierten" die Autoren an den Mischpulten mit?

   Wider die Herbstnebelsuppe

   Damit sind wir beim Thema des Steirischen Herbst heuer: "Meister, Trickster, Bricoleure." Früher hätte man gesagt: Virtuosen, Blender, innovative Kräfte. Die Spielertypen und die Scharlatane voneinander zu trennen, die Geister von den Un-Geistern zu trennen, die Sinne dafür zu schärfen, wo und wie Kunst das Vehikel sein kann, um neue Ufer zu erreichen - das ist ein hehres Festival-Ziel.

   In welche der drei Gruppen mag die französische Performerin Gisèle Vienne einzuordnen sein, die ebenfalls am Eröffnungswochenende ihr nicht ganz anderthalbstündiges Wald-Mythos-Stück "This is how you will disappear" vorstellte? Da gab es keine steirischen Eichen, sondern eher Fichten-Monokultur mit einigem Unterholz. Aber dafür reichlich steirische Herbstnebelsuppe. Ein eigener "Nebelingenieur" ist ausgewiesen in der langen Liste der Beteiligten, außerdem gleich drei Menschen für die Betreuung zweier Vögel, die in der letzten Szene auftauchen.

   Worum mag es gehen? Recht heutige Typen - ein Fitness-Trainer, eine Akrobatin, ein weinerlicher Popstar haben sich im Wald verirrt, tauchen zu einem teils üppigen, teils psychedelisch flirrenden Elektronik-Gebräu (Stephen O'Malley, Peter Rehberg) ein in den dunklen Tann, durch den Nebelschwaden geblasen werden, die ungemütlich kalt auch in den Zuschauerraum des Mumuth (der Musiktheaterbühne der Kunsthochschule) kriechen. Da hat man zu schauen, und auch nicht wenig zu rätseln.

   Ein Wochenende der Grenzgänger: Die New Yorker Regisseurin Annie Dorsen setzte sich in einer Maschinenintelligenz-gesteuerten Performance mit der Frage auseinander, ob wohl einem Diskurs von Homunculi philosophische Diskussionen, womöglich gar Problemlösungen zuzutrauen wären. Gleich über eine Woche geht daher der "Masterplan" von Susanne Kudielka (aus Deutschland) und Kaspar Wimberley (aus Großbritannien), die eine Architektur-Kulisse vor dem Forum Stadtpark errichtet haben und von hier aus Parkbesucher - Jogger, Spaziergänger, Radfahrer, Müßiggänger, Hundebesitzer - beobachten. Feldforschung unter Park-Flaneu ren, die nächstes Wochenende ihrerseits aufs Podium gebeten werden.

   Die Interaktion mit dem Publikum und der Stadt wird jedenfalls aufs Emsigste heuer betrieben, und das gilt auch für den Bereich der bildenden Kunst. Neu ist so etwas freilich nicht, und letztlich zielt auch alle Kunst im öffentlichen Raum dahin, wenigstens Aufmerksamkeit zu heischen. Beim Steirischen Herbst hat das elendslange Tradition, und auch heuer steht und hängt allerhand im Stadtraum herum. "Utopie und Monument" ist diesmal das Schlagwort und wir mögen gefälligst drüber nachdenken, wie es so funktioniert mit der Stadt als Kunst-Denkraum.

   Kunst unter Wahlplakaten

   Vielleicht war ja das Wetter am ersten Wochenende zu wenig anregend, das Regengrau nicht förderlich, dass man die Dinge wirklich registriert hat. Jedenfalls hat sich am Eröffnungswochenende des Festivals der Verdacht aufgedrängt, dass der öffentliche Raum mit Wahlplakaten, Hinweisen auf die Grazer Herbstmesse und Werbe-Ramsch sonder Zahl übervoll ist. Kunst muss echt um ihre Wahrnehmbarkeit fürchten, wenn sie sich hinaus wagt aus ihren geschützten Räumen.

   Apropos geschützter Raum: Wie mag Franz Wests "Hommage an die Elite progressiver Kulturschaffender Österreicher" wohl aussehen? Es muss ein lichtscheues Völkchen und das ihnen gewidmete Kunstwerk ein sehr lichtempfindliches sein - denn genau aus diesem Grund, so erklärt uns der Künstler, sei das gute Stück für die Retrospektive im Grazer Kunsthaus nicht ausgepackt worden, sondern in der Kiste verblieben. Das ist Franz West, wie er leibt und lebt. Aus dem Centre Pompidou ist eine Serie von zarten Papiermaché-Objekten angeliefert worden. Die sind zwar ausgepackt und auf mehreren Tischchen aufgestellt, aber daneben sind die Transportkisten klotzig stehen geblieben, denn "ich mache meine Arbeiten nicht, um den Sauberkeitsdrang von Ordnungshütern zu befriedigen". Also ein gezieltes Spiel mit der Unaufgeräumtheit . . .

   "Autotheater" heißt die Schau beim Steirischen Herbst im Kunsthaus Graz, angeblich die erste Retrospektive für Franz West in Mitteleuropa. Die Bildwerke des 1947 in Wien geborenen Künstlers fordern uns auf, zu interagieren. "Einsitzen erwünscht. Die Sitze sind anwendbar": Solche Zettelchen ermuntern uns etwa, Platz zu nehmen auf den roh zusammengeschweißten metallenen Sitzmöbeln, die zusammen mit den Skulpturen lauschige "Wohnzimmerplätzchen" suggerieren. Ob's dort freilich gemütlich wird?

   Gedränge der Entkleideten

   Rund 30 Arbeiten (seit 1972) sind für die Schau zusammengetragen, wir sehen also Franz West als einen, der immer wieder mit der Publikumsreaktion kokettiert oder seinen Besuchern ebenso gerne vorführt, dass zu feig sind. "Treten Sie hinter den Paravent, entkleiden Sie sich und legen Sie das Gewand auf den Sessel . . ." (Anleitung zu "Ohne Titel", 1989). Da wird wohl kein Gedränge der Nackerpatzeln entstehen.

   Schon eher mag jemand zu Franz Wests "Passstücken" greifen, diesen Kreativ-Mischungen aus Keule und Skulptur. Die darf man nämlich auch angreifen und ist ausdrücklich aufgefordert, damit zu hantieren. Sie zu schwingen, drängt sich auf.

   Ob es etwas bringt, die Ohren an die Münder von amorphen Papiermaché-Skulpturen zu halten, die anregend-erwartungsvoll dastehen und vielsagend "Geraune" heißen?

   In 100 Jahren zur Million

   Mit Franz West würdigt der Steirische Herbst jedenfalls einen Künstler, der eben deshalb international hoch gehandelt wird, weil er uns nicht allein lässt mit seinen Skulpturen und diese uns ausdrücklich ans Herz und in die Hände legt.

   Ach ja, reich wird der Steirische Herbst auch. Aber nicht so bald. Das Linzer Kunstkollektiv mit dem malerischen Namen "qujOchÖ" widmet sich den Scharlatanen im Finanzmilieu und hat dem Veranstalter ein großherziges Geschenk gemacht. Das Produktionsbudget in Höhe von 16.576,03 Euro kam auf ein Sparbuch, und wenn man ein solches 100 Jahre bindet, kann man sogar heutzutage gut reden mit einer Bank.

   Ein fixer Zinssatz von 4,185 Prozent - da darf das Grazer Avantgarde-Festival, wenn es in genau 100 Jahren knackige 143 Jahre alt sein wird, eine Million Euro einstreifen. Das ist echte Umwegrentabilität - und 143 schließlich kein Alter für ein Avantgarde-Fossil.

   Steirischer Herbst (bis 17. Oktober). Die Schau "Franz West/Autotheater" ist im Grazer Kunsthaus bis 9. Jänner 2011 zu sehen. Infos unter: www.museum-joanneum.at und www.steirischerherbst.at

Bild: Getanzte Klänge und der Mensch als Instrument in der "Maschinenhalle #1" beim Steirischen Herbst. Wolfgang Silveri

Reinhard Kriechbaum



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